Karlchens Aufsatz - Der Floh
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Er saß vor dem riesigen Spiegel. In der Ferne trampelte das Publikum begeistert. Heute also war er gekommen, sein grosser Tag. Einsam zog er das Kostüm an, weiss mit grossen Knöpfen. Die Schuhe waren riesig, denn das musste so sein. Dazu noch der steife Kragen um den Hals, fertig. Jetzt einen Blick in den Spiegel. Bleiche Haut, schwermütige Augen, eine schwarze Träne unter dem linken Auge. Vornehm und aristokratisch sah es aus, gleichzeitig aber auch bizzar seltsam. Er brachte den Mut auf, sich selbst schweigend zu betrachten, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute. Es klopfte an seine Tür. „Beppone, auftreten!“ Langsam erhob er sich, wante sich ab von dem, was er war. Unberührt stand die Schminke auf dem Tisch, er brauchte sie nicht mehr. 
Er würde sein wahres Gesicht zeigen, nicht mehr die Maske die sein Leben vereinnahmt hatte.

Es gab einen Tusch, als er durch den Vorhang trat. Der Sand der Manege erstreckte sich vor ihm, bis zu den Menschen hinter den Scheinwerferstrahlen. Erregtes erwartungsvolles Murmeln hüllte ihn ein während er gemessen zur Mitte ging. Er stolperte über die Leiter, welche er bereitgelegt hatte. Die Menge lachte.

Vorsichtig nahm er die Leiter auf, ging weiter bis zur Mitte und sah nach oben. Erneutes Lachen, als seine Augen sich verengten. Von Musik begleitet wurde das Seil herab gelassen. Der zentrale Punkt seines Gags, heute noch wichtiger als sonst. Mühsam klappte er die Leiter auf, kämpfte mit dem Gleichgewicht und dem Ansturm der Gefühle. Das Publikum lachte über seine Unbeholfenheit.

Endlich stand die Leiter. Das Seil hing griffbereit herab. Er straffte sich, warf einen Blick auf das Publikum und schickte sich an, stolz die Leiter zu erklimmen. Die Schuhe waren zu groß, er rutschte ab. Die Menge lachte.

Wütend und verzweifelt erhob er sich, stellte die Leiter wieder auf und bestieg sie erneut, langsam und vorsichtig. Auf der letzten Sprosse blieb er stehen, betrachtete das Seil. Es fühlte sich rauh an trotz seiner behandschuhten Hände. Entschlossen griff er zu und machte eine Schlinge. Mit einem kräftigen Ruck prüfte er den Knoten, er würde halten. Als er sich vollkommen sicher war, sah er sich um.

Die Manege, in der er so oft aufgetreten war, die soviel gesehen und erlebt hatte. Die bleichen Gesichter der Zuschauer, von hier oben besser zu erkennen und dennoch unerreichbar fern. Zumindest für ihn. 
Erwartungsvolle Stille, welchen Spass er nun bieten würde.

Hier stand er nun, auf der letzten Sprosse. Einsam und verlassen, inmitten der Menge, ein schwacher Schein. Tränen lösten sich aus seinen Augen, glitzerten im grellen Licht und fielen in den staubigen Boden. Erneutes lachen. Ja ... ja ... lacht nur über diese kümmerliche Gestalt. Jenes Individuum mit der Maske, das nur existiert um euch zu unterhalten, euch zu dienen. Lacht über die traurigen Augen, die wirklich traurig sind, die bleiche Haut die nicht geschminkt ist. Lacht über das menschliche Elend, verspottet es, denn dazu ist es da.

Die Schlinge rutschte wie von selbst über den Kopf, schmiegte sich an den Hals. Die Leiter begann zu wackeln, als die Füsse in viel zu grossen Schuhen um Halt kämpften. Begeisterte Augen richteten sich auf die verlassene einsame unbekannte Gestalt im Scheinwerferlicht. Ein Tusch begann zu spielen, noch leise, dann immer lauter und schneller. Ein letzter Blick auf diese Welt, die er kannte, die ihn nicht erkannte, die er hasste, die ihn liebte, die er nicht brauchte, die ihn immer benötigte. 

Der Tusch hielt an und er stiess sich ab. In weitem Bogen fiel die Leiter um und er begann zu schweben. Für einen endlosen Moment war er wirklich frei, allein aber frei, keine Masken, keine Schwerkraft, keine Zwänge, nur Freiheit. Mit erlöstem Lächeln spürte er wie die Schwerkraft in ihn erwachte, nach ihm griff, ihn in die Welt zurück reissen wollte. Nicht mehr, nie wieder, es war vorbei. Das Seil straffte sich, es knackte leise, zuckend hing ein weisses Etwas in weißen Sachen mit weißem Gesicht am Seil und schwang hin und her. Das Publikum applaudierte, lachte, brüllte und stampfte, dass die Erde vor Begeisterung bebte. Alle feierten sie ihn, den einzigen der sie zum Lachen bringen und unterhalten konnte, ihn, der ewig traurige, der unerschütterlich ihr Leben verbessert hatte, ihn, den Meister der Maske, der ihnen den Spiegel vor Augen beschönigt hatte.

Langsam drehte sich der kleine leblose Körper. Helles Licht fiel auf das erstarrte Gesicht. Der Tumult der Freude erlosch und entsetzte. Lähmende Stille breitete sich aus, als das Antlitz der Wahrheit aus finsterster Dunkelheit gezogen und den Augen feilgeboten wurde. Sie wichen zurück, keuchten, wanden sich ab um zu entfliehen, zu schlimm war der Anblick für sie. Noch immer drehte sich der Körper im Licht der verlassenen Scheinwerfer, hoch schwebend über einer leeren Manege. 
Sanft liebkoste Helligkeit das Gesicht eines Clowns, eines glücklich erlöst lächelnden Clowns. 
Ein schrecklicher,  friedvoller Anblick. Endgültig!